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Die Freuden der Erinnerung

Die Freuden der Erinnerung

Wenn wir älter werden, lassen die körperlichen Kräfte und Säfte spürbar nach. Früher konnte man stundenlang im Garten arbeiten, früher konnte man putzen und schreiben und werken und sinnen, früher ist man überhaupt nicht müde geworden.

Früher hat man auch nichts vergessen. Man hat keinen Namen vergessen und keinen Geburtstag und wenn man in den Keller hinabgestiegen ist, um etwas zu holen, hat man sich, wenn man unten angekommen war, nicht gefragt: Was willst du denn eigentlich hier im Keller? Tempi passati! Es war einmal! Aber keine Panik auf der Titanic! Man steigt ja auch nicht jeden Tag in den Keller, um festzustellen, dass man nicht weiß, warum man in den Keller gestiegen ist.

Eine Kraft des Gedächtnisses jedenfalls ist aufs Schönste erhalten geblieben, ja, sie ist fast noch stärker geworden: die Kraft der Erinnerung. Sie erlaubt uns, furchtlos in den tiefen Keller der Vergangenheit hinabzusteigen, wo die lang vergangenen schönen Zeiten und Momente und Begebenheiten in den langen Regalen des Langzeitgedächtnisses da stehen wie Gläser mit bunter Marmelade. Was uns die Erinnerung da zeigt und kosten lässt, ist fast schöner als damals, als es sich wirklich ereignete, und süßer als damals, als es Gegenwart war. Das Gedächtnis hat es konserviert, die Zeit hat es mit einer Staubschicht, aber auch mit einer schimmernden und schützenden Patina bedeckt. Da verdirbt nichts.

Im Keller der Vergangenheit begegnen wir den Menschen wieder, die wir kannten, und denen, die wir liebten, und wir erleben mit ihnen allen wieder das, was wir damals mit ihnen erlebten. Wir stehen wieder mit den Kindern unterm Weihnachtsbaum, wir finden uns mit Eltern, Großeltern und Verwandten auf Geburtstagen und Kommunionsfeiern und an Weihnachtsfesten wieder, wir stehen mit den Pfadfindern unterm wehenden Lilienbanner und sitzen mit Freunden in der verräucherten Kneipe. Die Kraft der Erinnerung ermöglicht uns, Reisen, die wir gemacht haben, in vielleicht noch größerer Schönheit nachzuempfinden: eine Dampferfahrt auf dem Rhein oder die erste Begegnung mit dem Meer. Wir erleben noch einmal die Wanderung in den Tiroler Bergen und sitzen an einem warmen Sommerabend bei einem Glas Wein im Innenhof eines spanischen Parador.

Wie schön ist es auch, sich gemeinsam zur erinnern! Weißt du noch, wie …?

Man muss in der Gegenwart nicht nur munter drauflos leben, man muss auch in der Gegenwart nicht immer an die Zukunft denken und sich vor Altersarmut schützen, man muss auch versuchen, die Kammern der Vergangenheit mit wertbeständigen Gütern zu füllen, mit Schätzen, die nicht Rost und Motten verzehren und denen auch Most und Rotten nichts anhaben können.

Die Erinnerung verbindet uns mit Menschen, die nicht mehr sind. Wir hören aus der Kindheit die Mahnungen unserer Eltern und Großeltern, wir hören zärtliche Worte aus der Jugendzeit, wir hören witzige Bemerkungen der Freunde im geselligen Kreis. Als wäre es gestern gewesen!

Das ist der große Vorzug, den das Alter hat, dass wir tief in die Vergangenheit hinabsteigen können. Damit sind wir Alte privilegiert der Jugend gegenüber, die noch keinen vernünftigen Keller besitzt und kaum Vergangenheitsvorräte aufzuweisen hat und fast ganz auf die nüchternen Darbietungen der Gegenwart angewiesen ist. Die Jugend meint, sie muss die Gegenwart genießen. Aber das sind dann oft nur unsinnige Zeitverstreichungen und momentane Großartigkeiten, die dahin gehen und vergessen werden. Nein, man muss dafür sorgen, dass aus der Gegenwart eine gute Vergangenheit wird. Oder ist das zu viel verlangt? Lächeln die Jungen da nur, mit denen „die „neue Zeit zieht“? Wir Alte jedenfalls können vor der rauen Gegenwart in die Sanftheit einer kuscheligen Vergangenheit ausweichen. Wenn sie auch nie kuschelig war, die Kraft der Erinnerung schafft ein heimeliges Ambiente. Ja, so ist das, die Gegenwart beschwert, die Vergangenheit verklärt und davon hat man was.

Wie die Erinnerung beschäftigt sich auch die Literatur gern mit dem, was war und haucht vergangenen Zeiten Leben ein. Der Erzähler, der „raunende Beschwörer des Imperfekts“, ruft ähnlich wie unsere Erinnerung vergangene Zeiten auf. Da soll man lauschen und sich den evozierten Vorstellungen sorglos überlassen. Man kann sie mit in die Gegenwart hinein nehmen, man kann eine Verbindung herstellen. Die Gegenwart aus der Vergangenheit heraus angehen, dass ist es. Die Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart, das ist der Mensch. Und wenn die Vergangenheit reich war, hilft das dem Menschen in der Gegenwart. Tempus fugit! Klar! Aber das ist die Lösung: Aus der Gegenwart eine schöne, bleibende Vergangenheit machen.

Die Vergangenheit ist tiefgründig und beständig, die Gegenwart als solche ist oberflächlich und vergänglich. Man sollte in der Gegenwart dafür sorgen, dass man eine gute Vergangenheit bekommt, an die man sich gern erinnert und die einem auch in der Gegenwart hilft. „Tief ist der Brunnen der Vergangenheit“, sagt der Dichter. Lasst uns kühles Wasser daraus schöpfen und uns erfrischen!

Aaah, das tut gut. (2017/ 2019)

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