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Leseprobe: Kriegskinder

Leseprobe: "In der alten Volksschule"

 
Auf hebt unsere Fahnen in dem frischen Morgenwind, sangen die auf dem Schulhof angetretenen Kinder der Volksschule Alsfassen. Sie spürten den frischen Morgenwind in den Gesichtern, während sie sangen und dem Aufziehen der Fahne zusahen. Laßt sie wehen und mahnen die, die müßig sind, sangen die Kinder.
Hinter dem Flaggenmast lag der Hühnerpferch des an den kleinen Schulhof angrenzenden Hauses. Die Hühner drängten sich am Maschendraht zusammen und lauschten dem Gesang der Kinder. Er schien eine anregende Wirkung auf sie auszuüben. Sie stimmten in ihrer Hühnersprache mit ein. Ein Huhn, das der Mahnung, nicht müßig zu gehen, genügt hatte, verkündete lauthals, daß es ein Ei gelegt habe. Der Direktor, der neben dem Fahnenmast stand, um gleich ein paar nette, kriegshetzende Worte an die Schüler zu richten, drehte sich rot vor Zorn nach dem Huhn um und machte: gscht, gscht, was das jubelnde Huhn aber keineswegs aus dem Konzept brachte. Die Kinder kicherten und stießen einander an. Ein kleiner, fetter Lehrer löste sich aus dem strammstehenden Kollegium und schoß auf das achte Schuljahr zu. Er griff sich zwei Kerle, die ihn fast um Haupteslänge überragten, zog sie an den Ohren hinter die Reihen und versetzte ihnen ein paar schallende Ohrfeigen.
Wo Mauern fallen, bauen sich andere vor uns auf, sangen die Kinder, doch sie weichen alle unserem Siegeslauf.
Die Hühner durften danach nicht mehr dabeisein. Sie mußten im Stall bleiben bis nach der Flaggenhissung. Wahrscheinlich hatte der Rektor oder eher noch ein Lehrer in seinem Auftrag den Anwohnern mitsamt ihren Hühnern Fürchterliches angedroht, wenn so etwas noch einmal vorkäme.
Die Schüler stellten sich nach Klassen geordnet am Eingang auf und zogen zwei und zwei ins Schulgebäude.
Felix saß neben Jäbche. Der hieß eigentlich Jakob, aber der Rektor, der ihr Klassenlehrer war, hatte gesagt, das sei kein deutscher Name. Hast du nicht noch einen anderen Namen? fragte der Rektor. Friedrich, sagte Jäbche. Alle Kinder hatten mindestens zwei Namen. Einmal war es erfahrungsgemäß besser, unter dem Schutz von mehreren Heiligen zu stehen, zum anderen mußten verschiedene Verwandte berücksichtigt werden. Der vorgesehene Patenonkel würde sein Ehrenamt, das ihm immerhin eine regelmäßige Beschenkung des Patenkindes bis zum Tag der ersten heiligen Kommunion auferlegen würde, nur antreten, wenn das Patenkind auch seinen Namen trüge. Auch der Großvater wäre gekränkt, wenn sein Name nicht in seinem Enkelkind weiterleben würde. Friedrich, sagte Jäbche, wie mein Opa. Der Rektor war zufrieden. Das ist ein schöner Name, sagte er. Fredericus Rex! Wir nennen dich also Friedrich. Die Kinder sagten weiterhin Jäbche.
Die meisten Namen hatte Tyrsus. Er hieß außerdem Wendalinus, Johannes, Peter und Paul. Damit war der Schutz des Stadtheiligen garantiert, auch die Apostelfürsten galten als tatkräftige Schutzpatrone, die persönliche Profilierung war durch den Rufnamen gesichert, und gewiß hatten auch Verwandte in dem ein oder anderen Namen Anerkennung gefunden. Die Kinder nannten ihn Tü.
Am Nachmittag jagten sie an der sonnigen Böschung eines Feldweges Eidechsen. Schorsch hatte den SS- Dolch seines Onkels August mitgebracht. Er schlug den Eidechsen mit der Klinge auf den Schwanz. Der Schwanz ging zuckend ab, und die Eidechsen verschwanden ohne Schwanz in ihren Höhlen. Es war faszinierend. Das macht denen gar nix, erklärte Schorsch, der wächst wieder nach.
Der Dolch war natürlich toll, der Stahl funkelte in der Sonne. Was macht denn dein Onkel August mit dem? fragte Felix. Das ist wie eine Ehre, sagte Schorsch. Den dürfen nur die SS- Männer tragen. Da kam Werner mit seinem Koppel, auf dessen Schloß "Gott mit uns" stand, nicht mehr mit, und auch Felix konnte mit dem Winkel eines Stabsgefreiten auf seiner Windjacke gegen einen wirklichen SS- Dolch nicht aufkommen.