Leseprobe: Die Leute erzählen viel, aber es ist auch viel wahr
Leseprobe: "Sommermorgen"
Mit Wohlgefallen ruht das Auge des rechtschaffenen Urpilstrinkers auf den jugendlichen Hausfrauen, die ihre ranken, den Diätplänen von Brigitte oder Amica entsprungenen Gestalten in knappen Sommerkleidchen mit Spaghettiträgern vorführen. Natürlich haben alle die natürliche Bräune, die zwar in letzter Zeit von Gesundheitsfanatikern angeschwärzt wurde, aber doch immer noch voll im Trend für diejenigen liegt, die jung und sportlich aussehen wollen.
Rentner dagegen, deren modisch gemusterte T- Shirts gespannt sind, ob sie den Bauch halten können, oder weil sie den Bauch halten müssen, den man ihnen anvertraut hat, bleiben schnaufend stehen, schieben den Strohut zurück und wischen sich mit dem "Sacktuch" die schweißnasse Stirn, ehe sie den habituellen Rundgang fortsetzen, der sie schließlich wie jeden Morgen mit dem Karl oder dem Werner oder mit "em" Erna zu einem Schwätzchen zusammenführt.
"Wenn ich morgens in die Stadt gehe", sagt der Rentner Peter Welsch, "brauche ich gut und gerne meine zwei Stunden. Und dann hab ich meist noch nicht alles gemacht, was ich machen wollte."
Der pensionierte Oberstudienrat Franz Josef Arendt, der an diesem Morgen niemand trifft, den er kennt, läßt sich an einem der Tischchen des Eiscafes Cortina im metaphorischen Schatten des Domes nieder. Den eigentlichen Schatten spenden Sonnenschirme. Der Dom begünstigt durch seine spätmittelalterliche Präsenz, deren sich der Oberstudienrat durch eine leichte Drehung des Kopfes versichert, die Festigung historischer Seinsgewißheit, die der ehemalige Geschichtslehrer für sein Lebensgefühl braucht. Orgelklänge ziehen schwer und süß wie gelber Honig durch die Luft und teilen dem Morgen etwas von der sämigen Konsistenz einer Zeit mit, die man sonst nicht mehr spürt.
Der Grabstein
Es soll ein schöner Stein sein. Am besten schwarz. So einer, wie die Mittermüllers einen haben, deren Grab in der Nähe liegt. So einer würde ihr gefallen. "Das ist schwarzer Basalt", meint der Sohn. "Ja, dann schwarzer Basalt." "Und was soll draufstehen?" fragt die Tochter. Die Mutter geht zum Küchenschrank und zieht ein Schublädchen auf. Sie hat noch einen von diesen alten Küchenschränken, bei denen ein schmaler Aufsatz mit Glasfenstern auf einem breiten, zweitürigen Unterbau ruht. Unter den Glasfenstern des Oberteiles sind Schublädchen angebracht. Sie zieht eines davon auf und holt einen Zettel heraus. Sie reicht den Zettel der Tochter. "Geliebt, beweint und unvergessen", liest die Tochter. "Das ist ein schöner Spruch", gibt die Tochter lächelnd zu. "Und mein Name und mein Geburtsjahr", sagt die Mutter. "Das Todesjahr könnt ihr dann draufschreiben, wenn ich gestorben bin." Natürlich soll auch der Name ihres Mannes drauf, der schon vor 10 Jahren gestorben ist. Der Arme mußte sich bisher mit einem einfachen Holzkreuz begnügen und hat das offensichtlich auch getan.